Über das Kreutz Christi

[267] O seligs Holz, o heilger Stamm,

Daran du, liebster Bräutigam,

Für deine Braut wirst angeschlagen!

Kommt her, ihr Töchter auß Zion,

Und sehet, was des Höchsten Sohn

Für unsre Liebe muß ertragen.


Ach, unser traurigs Erb-Beschwer

Rührt von dem Baum des Todes her,

Den unser Vater hat geschmecket;

Schaut hie den Baum des Lebens an,

Was unter jenem mißgethan,

Wird unter diesem gantz verdecket.


Laufft zu, die ihr das Leben sucht,

Und schmeckt, wie süß doch dessen Frucht,

Das Sternen-Brodt, des Himmels-Quelle,

Der ewge Schatz, das höchste Gut,

Selbst Gottes wahrer Leib und Blut,

Dein Schöpffer vor, itzt dein Geselle.


Ach, kostet diese Wunder-Frücht',

Kein Cherub treibt davon mehr nicht,[267]

Der Garten ist nicht mehr umgraben,

Er stehet frey im freyen Feld',

Auff daß dazu die gantze Welt

Mag ihren freyen Zugang haben.


O werthes Kreutz, o unsre Freud'

In allem unserm Kreutz und Leid'!

Ist wer, den seine Sünden plagen?

Hieher und hol dein' Artzeney,

Die Handschrifft, sieh, ist hie entzwey

Und durchgestrichen angeschlagen.


Wird wer noch durch den Tod bewegt?

Dies ist das Speer, das ihn erlegt,

Die Baar, darauff er außgetragen.

Schreckt wen der Höllen Ungemach?

Dies ist die Keul, die sie zerbrach

Und die ihr gantzes Heer geschlagen.


Daß nicht der Himmel auff uns fällt,

Ist dies die Stütze, die ihn hält,

Und daß kein Fluch die Erde drücke,

Wird dieser benedeyte Stamm,

Von dem sie ihren Ursprung nam,

Ihr eingepflantzt, der sie erquicke.


Sprecht nicht, daß er verdorret sey;

Was uns den Wachsthum bringet bey,

Kan man kein dürres Holtz nicht nennen,

Ach nein, daß unsre Wolfahrt blüht

Und in uns gute Frücht' erzieht,

Muß hieher seinen Safft erkennen.


Bringt Palmen, bringet Oelzweig her,

Zu dieses lieben Kreutzes Ehr,

Die Oelzweig' als der Gnaden Pflantze,

Die Palmen des erhaltnen Streits

Die schicken recht sich beyderseits

Zu dessen außerwehltem Krantze.
[268]

Ach, meine Lieb- und Lust-Begier

Ist gantz gekreutziget in mir,

Da, Jesu, du gekreutzigt worden,

Ich such' auch nichts mehr bey der Welt;

Der Orden, welcher mir gefällt,

Ist nur allein des Kreutzes Orden.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 267-269.
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